Schreibkompetenz: Zusammenfassungen
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Institut für Germanistik
Gerd Fritz
 

Funktionale Textbausteine 4 - Bewertung

1. Warum es wichtig ist, Bewertungen zu erkennen und zu verstehen
2. Grundstrukturen von Bewertungen
3. Funktionen von Bewertungen
4. Bewertungsgegenstände, Bewertungskriterien, Bewertungswortschatz
5. Probleme beim Erkennen und Verstehen von Bewertungen -
Beispiele und Tipps

5.1 Die Funktion expliziter Bewertungen erkennen
5.2 Implizite Bewertungen erkennen und verstehen
6. Übungen

1. Warum es wichtig ist, Bewertungen zu erkennen und zu verstehen

Bewertungen spielen in der Wissenschaft eine größere Rolle als man oft annimmt. Dass sie in Textsorten wie der Rezension eine grundlegende Funktion haben, ist einleuchtend. Aber auch in vielen anderen wissenschaftlichen Texten, die im Wesentlichen beschreibend oder argumentativ sind, werden an zentralen Stellen Bewertungen gemacht. So wird in linguistischen Texten beispielsweise oft die Qualität von konkurrierenden Beschreibungen bewertet oder auch die Qualität von Argumenten. Kritik ist in vielen Fällen der Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Für das Verständnis wissenschaftlicher Texte ist es deshalb wichtig, mit den Grundstrukturen des Bewertens vertraut zu sein und Bewertungen und deren Funktionen zu erkennen. In vielen Fällen geben uns die Bewertungen, die ein Autor macht, wichtige Hinweise auf seinen wissenschaftlichen Standpunkt, seine Ziele und die Perspektive, in der er seinen Gegenstand sieht.

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2. Grundstrukturen von Bewertungen

Für die Formen des Bewertens sind folgende Aspekte grundlegend:

(i)  Der Bewertungsgegenstand. Die Bewertungsmöglichkeiten hängen ab von der Art des Bewertungsgegenstands.

Beispiel: Wir bewerten einen Salto anders als eine wissenschaftliche Argumentation.

(ii)  Bewertungsaspekte. In Abhängigkeit von der Art des Gegenstands kann ein Gegenstand im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte bewertet werden. Unterschiedliche Gegenstände können im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte bewertet werden.

Beispiele: Ein wissenschaftliches Buch kann man im Hinblick auf die Schönheit des Einbands bewerten, aber auch im Hinblick auf die Übersichtlichkeit der Darstellung. Die Darstellung einer wissenschaftlichen Theorie kann man z.T. unter anderen Aspekten bewerten als einen Forschungsbericht.

(iii)  Die Bewertungsadresse. In vielen Fällen spielt es eine Rolle, für wen die Bewertung gilt.

Beispiel: Ein bestimmtes Buch kann gut sein für Fortgeschrittene, aber nicht für Studienanfänger.

(iv)  Bewertungskriterien. Bewertungen stützen sich auf Kriterien.

Beispiel: Ein Qualitätskriterium für Einführungen in einen Wissenschaftsbereich ist die Verständlichkeit. Wir können also eine Einführung positiv bewerten (im Hinblick auf die Brauchbarkeit für Studienanfänger), indem wir feststellen: Diese Einführung ist gut verständlich. Dann ist sie (im Hinblick auf diesen Bewertungsaspekt) gut.

(v)  Bewertungsprinzipien. Mit der Anwendung eines Kriteriums legt man sich auf ein Bewertungsprinzip (auch Standard genannt) fest.

Beispiel: Eine Einführung ist nur dann gut (für Studienanfänger), wenn sie (für Studienanfänger) verständlich ist. Typisch für die Formulierung von Bewertungsprinzipien (Standards) ist die wenn-dann-Formulierung.

Ein Beispiel

Der letzte Satz einer Kurzrezension zu einem Buch über "Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit" lautet:

(1)  Das Buch ist informativ und anregend zu lesen, sowohl für DaF-Spezialisten als auch für allgemein sprachhistorisch Interessierte.

Mit (1) werden explizit zumindest zwei Bewertungen gemacht:

  1. Das Buch ist informativ. Bewertungsaspekt ist hier der Lesernutzen/ die Brauchbarkeit. Als Qualitätskriterium wird erwähnt, dass das Buch informativ ist.
  2. Das Buch ist anregend zu lesen. Bewertungaspekt ist ebenfalls ein Bereich des Lesernutzens. Auch hier wird das Bewertungskriterium explizit genannt. Als Adresse werden zwei Personenkreise genannt: für DaF-Spezialisten, für allgemein sprachhistorisch Interessierte.
Nicht explizit genannt werden die Bewertungsprinzipien, die man etwa folgendermaßen formulieren könnte:
  1. Ein Buch dieser Art ist dann empfehlenswert, wenn es informativ ist.
  2. Ein Buch dieser Art ist dann empfehlenswert, wenn es anregend zu lesen ist.

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3. Funktionen von Bewertungen

Bewertungen werden häufig für die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Gegenständen benutzt. Deshalb spielt bei Bewertungen meistens auch der Vergleich mit anderen Vergleichsgegenständen eine Rolle. Man bewertet verschiedene Gegenstände und wählt den guten (oder den besten). Bewertungen geben Orientierung, sowohl für denjenigen, der aufgrund einer Bewertung handelt, als auch für denjenigen, der das Handeln anderer verstehen will - z.B. die Art und Weise, wie jemand einen wissenschaftlichen Text schreibt.

Einige Beispiele für derartige Entscheidungen im wissenschaftlichen Umfeld:

  • Man entscheidet sich dafür, sich mit einem bestimmten Gegenstand zu beschäftigen, weil man den Gegenstand als interessant oder lohnend bewertet.
  • Man entscheidet sich dafür, eine bestimmte wissenschaftliche Theorie zu akzeptieren und damit zu arbeiten, weil man sie als plausibel bewertet.
  • Man entscheidet sich dafür, bei einer anwendungsorientierten Arbeit (etwa einer Schulgrammatik) eine bestimmte linguistische Beschreibung zu benutzen, weil man sie als übersichtlich, verständlich und ausreichend umfassend bewertet.

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4. Bewertungsgegenstände, Bewertungskriterien, Bewertungswortschatz

Die folgende Liste gibt einen Eindruck von typischen Bewertungskriterien für wissenschaftliche Texte und Teile solcher Texte sowie vom dazugehörigen Bewertungswortschatz. In den meisten Fällen gibt es zu einer positiven Bewertung auch ein negatives Gegenstück. In einigen Fällen führen wir als Beispiele auch die Negativbewertungen an.

Ein wissenschaftlicher Text
ist auf dem neuesten Stand der Forschung, innovativ, argumentativ, klar strukturiert, übersichtlich aufgebaut, anschaulich geschrieben, stringent, ergebnisreich usw.

Eine empirische Untersuchung
beruht auf reichem/ gut ausgewähltem Datenmaterial, ist theoretisch fundiert, methodisch versiert, ergiebig usw.

Eine linguistische Beschreibung
ist umfassend, (un)zutreffend, (un)vollständig, (un)genau, (nicht ausreichend) detailliert, (un)verständlich oder (un)übersichtlich, systematisch aufgebaut usw.

Eine linguistische Analyse (beispielsweise eine Textanalyse)
ist detailliert, systematisch, differenziert, methodisch reflektiert, scharfsinnig, präzise, usw.

Eine Theorie
ist widerspruchsfrei, zusammenhängend, komplex, hat empirischen Gehalt, ist erklärungsadäquat, von großer (geringer) Reichweite, plausibel, kreativ, innovativ, trivial usw.

Eine Behauptung (eine These)
ist wahr/ falsch, (ir)relevant, unzusammenhängend, vage, einleuchtend, absurd, zutreffend, gut (schlecht) begründet usw.

Eine Argumentation
ist widerspruchsfrei/ widersprüchlich, zirkulär, stringent, subtil, scharfsinnig, überzeugend usw.

Eine Bewertung
ist gut (schlecht) begründet, wohlabgewogen, einseitig, ungerecht usw.

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5. Probleme beim Erkennen und Verstehen von Bewertungen - Beispiele und Tipps

5.1 Die Funktion expliziter Bewertungen erkennen

Bei der Einführung von Bewertungskriterien und Bewertungswortschatz im vorhergehenden Abschnitt wurden jeweils Beispiele gewählt, in denen die Bewertung durch die Wahl eines bestimmten Ausdrucks explizit gemacht wird. Solche bewertenden Ausdrücke sind präzise, reflektiert, plausibel, kreativ, irrelevant usw. Derartige Bewertungen sind also relativ leicht zu erkennen. Schwieriger ist es manchmal, die weitergehende Funktion dieser Bewertungen an der betreffenden Textstelle zu erkennen.

Zwei Beispiele

(1)  "Die Vorstellungstheorie wird völlig unplausibel, wenn sie auf Konjunktionen wie ob [...] angewendet wird." (Keller 1995, 59).

Keller bewertet hier die Vorstellungstheorie explizit als unplausibel und gibt damit zu erkennen, dass sie für ihn als ernst zu nehmende Bedeutungstheorie nicht infrage kommt.

(2)  "4. Bedeutungen lassen sich formulieren, ohne seltsame Entitäten erfinden zu müssen, wie etwa semantische Merkmale, Seme und dergleichen" (Keller 1995, 68).

Punkt 4 ist ein Punkt aus einer Liste von Vorteilen einer Gebrauchstheorie, d.h. aus einem umfangreicheren Bewertungsblock in Kellers Text. An dieser Stelle gibt Keller eine kontrastive Bewertung von Gebrauchstheorie und einer anderen Theorie, nämlich der strukturellen Merkmalsemantik. Er führt als Vorteil der Gebrauchstheorie an, dass diese keine seltsamen Entitäten erfinden muss und bewertet damit gleichzeitig die Merkmalsemantik negativ in Bezug auf ihre Beschreibungssprache, indem er voraussetzt, dass diese solche seltsamen Konstrukte erfinden muss. Er versucht damit zu zeigen, dass eine Merkmalsemantik keine ernsthafte Konkurrenz für eine Gebrauchstheorie ist.

TIPP Explizite Bewertungen sind als Bewertungen meist leicht zu erkennen. Versuchen Sie immer, sich klar zu machen, wozu die Bewertungen an den betreffenden Stellen jeweils dienen. In unseren Erläuterungen zu den zwei Beispielen haben wir die jeweilige Funktion mit gibt damit zu erkennen und versucht damit zu zeigen verdeutlicht.

5.2 Implizite Bewertungen erkennen und verstehen

Nicht immer werden Bewertungen mit typischen Bewertungsausdrücken explizit gemacht, wie sie im Abschnitt 4 angeführt werden. Häufig werden nur bestimmte Eigenschaften eines Gegenstandes genannt, von denen man als Leser wissen muss, dass sie als Qualitätskriterien (d.h. auf der Grundlage von Bewertungsprinzipien) benutzt werden. Wir können hier von impliziten Bewertungen sprechen.

Beispiel

Nehmen wir an, ein Rezensent macht über eine semantische Beschreibung folgende Feststellung:

(1)  Der Verfasser bedient sich bei seiner Beschreibung einer merkmalsemantischen Notation.

Dies kann als reine Feststellung über die Beschreibungssprache gemeint sein. Wenn es aber Hinweise dafür gibt, dass der Rezensent ein Bewertungsprinzip wie (2) oder (3) zugrunde legt, dann wird man den Satz (1) als positive oder negative Bewertung verstehen:

(2)  Wenn sich jemand einer merkmalsemantischen Notation bedient,
dann trägt das zu einer guten Beschreibung bei. (positive Bewertung)
(3)  Wenn sich jemand einer merkmalsemantischen Notation bedient,
dann trägt das zu einer schlechten Beschreibung bei. (negative Bewertung)

Der entscheidende Punkt ist also für den Leser, Hinweise dafür zu erkennen, dass der Rezensent Annahmen wie (2) oder (3) macht. Nehmen wir an, der Rezensent spricht irgendwo in seiner Rezension von seltsamen Entitäten wie semantischen Merkmalen (vgl. Keller 1995, 68), dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er ein Bewertungsprinzip wie (3) zugrunde legt und deshalb mit (1) eine negative Bewertung macht.

TIPP Wenn in einem wissenschaftlichen Text Eigenschaften eines Gegenstands (einer Beschreibung, einer Theorie, einer Argumentation) genannt werden, dann kann man prinzipiell mit der Möglichkeit rechnen, dass der Verfasser an dieser Stelle eine implizite Bewertung macht. Wenn Sie diesen Verdacht haben, suchen Sie in der Umgebung der betreffenden Textstelle nach Hinweisen, dass der Autor ein einschlägiges Bewertungsprinzip akzeptiert.

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6. Übungen

Aufgabe 1

In der Auswertung seiner Suggestivfragen schreibt Keller (1995, 59) unter ad 2:

(1)  "Die Anwendung der Vorstellungstheorie führt bei dem Versuch, sie auf den Ausdruck Vorstellung selbst anzuwenden, zu einem iterativen Regreß."
Aufgabe 1 Zur Musterlösung
Zeigen Sie, welche Bewertung Keller mit diesem Satz macht, indem Sie ein Bewertungsprinzip angeben, das Keller an dieser Stelle zugrunde legt. Nennen Sie eine Funktion dieser Bewertung an dieser Stelle des Texts.

Aufgabe 2

In einem Buch zur sog. distributiven Semantik, in dem der Zusammenhang der Bedeutung von Wörtern und ihrem Zusammen-Vorkommen mit anderen Wörtern in Texten geklärt und beschrieben werden soll, setzt sich Heringer u.a. mit den Kritikern von distributionellen Methoden in der Semantik auseinander. Im folgenden Abschnitt beschreibt er die wissenschaftliche Praxis dieser Kritiker:

(1)  Die Kritiker des Distributionalismus [...] schauen nicht nach den Fakten, sondern denken nach. Jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass sie tatsächlich Distributionen untersucht hätten. Sie überlegen auf der Basis ihrer theoretischen Überzeugung, ob so etwas gehen könnte, ob so ein Verfahren solche Ergebnisse liefern könnte und so weiter. [...] (Heringer, H.J.: Das höchste der Gefühle. Empirische Studien zur distributiven Semantik. Tübingen 1999, 38)
Aufgabe 2 Zur Musterlösung
Schon die negative Formulierung in der Beschreibung "schauen nicht nach den Fakten" weckt den Verdacht, dass der weiter gehende Sinn dieser Beschreibung eine Bewertung sein könnte. Wenn wir annehmen, dass Heringer bei dieser Beschreibung ein bestimmtes Bewertungsprinzip zugrundelegt, können wir diese Beschreibung als eine Bewertung der Praxis der Kritiker der distributionellen Methode verstehen.
Formulieren Sie ein solches Bewertungsprinzip und geben Sie an, welcher Art Heringers Bewertung der Kritiker ist.

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Der erste Teil des Moduls ist hier beendet. Jetzt können Sie das Schreiben von Zusammenfassungen üben: Zur Aufgabe.